Leseprobe aus Band I – Kapitel 1
Als Hörprobe anhören
Die fünf Strafen
Ohrenbetäubend laut schrillte der hohe Ton durch die unterirdischen Wohnquartiere der Marskolonie in Hebes Chasma. Es folgten fünf Sekunden Pause, dann abermals der Alarm. Apoll presste sich die Hände auf die Ohren. Immer wieder erklang das durchdringende Geräusch. »Nicht die nächste Strafwoche. Ich habe es satt.«
Der Messenger an seinem Handgelenk zeigte 3:37 AM an. Er rieb sich die Müdigkeit aus den Augen. »Nur drei Stunden Schlaf, verdammt.«
Er sprang von der abgenutzten Pritsche, die er sich mit einem Kollegen aus der Bergbaumine im Wechsel teilte, und schlüpfte in seine Stiefel hinein. Wie fast alles in der Marskolonie waren sie mit rotem Staub bedeckt. Er gähnte und streckte sich, um den Rest Müdigkeit loszuwerden, und lief durch die Doppeltür zum Schlafsaal nach draußen. Er ließ Hunderte mehrstöckiger Feldbetten und einen entsprechenden Gestank hinter sich.
Am Ausgang des Saals drängten sich alle Männer zusammen, die eben noch in ihren Betten gelegen hatten. Viele von ihnen waren muskulös und schmutzig wie Apoll. Etliche hielten sich die Ohren zu. Sein Freund Merkur eilte heran.
»Welcher Idiot ist diesmal schuld?«, rief er. »Ich jedenfalls nicht«, fügte er mit mürrischem Gesichtsausdruck hinzu. Zusammen mit Tausenden Männern bahnten sich die beiden ihren Weg durch den schwach beleuchteten Gang zur Hauptröhre. Dort standen Wächter und brüllten: »Schneller, beeilt euch, schneller, schneller, los!«
In der Hauptröhre warfen sich Apoll und Merkur mit den anderen auf das Transportband aus schwarzem Gummi, das sich mit hohem Tempo am Boden der Röhre fortbewegte. Aus allen zehn Wohnquartieren der Kolonie stürzten sich Männer auf das Band. Sie stießen gegen andere, rempelten einander beiseite, traten und schlugen um sich und schrien: »Macht Platz!«, »Zur Seite!«, »Rückt endlich zusammen!« Apoll stöhnte vor Schmerz auf, als ein Kerl mit voller Wucht auf seinen Beinen landete. Er und Merkur kauerten sich liegend zusammen. Das Band lief mit einer Geschwindigkeit wie ein schneller Dauerlauf. Das Aufspringen glich einer Mutprobe. Aber niemand wollte zu spät in die Arena kommen. Das würde alles nur schlimmer machen. Die fünf Strafen reichten. Sie hatten ab dem Moment, als der Alarm das erste Mal erklungen war, genau eine Stunde Zeit, bis der Countdown ablief.
Plötzlich rutschten Apoll und Merkur ruckartig nach vorn und prallten gegen die anderen Männer. Das Band lief in einem steilen Winkel abwärts und führte in einen dunklen Schlund. Während Apoll hastig nach Hosenbeinen griff, um sich an irgendetwas festzuhalten, flog ein Mann vom Band herunter und krachte an die Wand der Röhre. »Hoffentlich überlebt er den Abgang«, rief Merkur durch das laute Brummen des Transportbands. Alle fünf Sekunden ertönte der Signalton. Apoll kniff die Augen vor Schmerz zusammen.
Nach 25 Minuten endete die Tortur. Die Röhre mündete in eine weite Halle mit drei hohen Toren. Das Förderband verschwand in der Mitte der Transferhalle im Boden. Apoll und Merkur rollten sich seitlich herunter und schlitterten durch den Staub. Alle rappelten sich so schnell wie möglich auf, um von dem Band wegzukommen. Ein Schrei drang durch die Halle. Zwei Männer rissen einen jungen Typ gewaltsam von der Stelle fort, an der das schwarze Gummiband in den Hallenboden lief. Panisch hielt der Verletzte seinen rechten Arm, der in einem unnatürlichen Winkel zur Seite stand.
»Wie übel. Der ist mit seinem Arm in die Umlenkrolle geraten«, sagte Merkur und rümpfte die Nase.
»Arme Sau. Immerhin ist der Arm noch dran.«
»Das da, was noch übrig ist, nennst du einen Arm?«
Unterhalb der Walzen verrotteten in der Dunkelheit abgetrennte Finger und Hände von Männern, die den richtigen Zeitpunkt zum Abrollen verpasst hatten. Da es in der ganzen Marssiedlung furchtbar stank, fiel der Geruch des verwesenden Fleischs hier nicht weiter auf.
Durch die Tore der Transferhalle schien das Licht der aufgehenden Sonne. Jedes Mal war Apoll aufs Neue beeindruckt, wenn er durch eines der Tore nach draußen schritt. Wie hatten ihre Vorgänger die Atmosphärenhülle bauen können? Sie bestand aus einem transparenten Dach, das im Osten und Westen von hohen Stützmauern aus demselben durchsichtigen Material getragen wurde. Im Süden direkt hinter der Halle ragte der Steilhang eines Tafelbergs empor. Durch diesen waren sie mit dem Förderband in die Tiefe gerast. Das nördliche Ende des Daches ließ sich mit dem bloßen Auge kaum ausmachen. Es zog sich in schier endloser Länge über einen flach ansteigenden Hang, auf dem Vieh weidete und etliche Gemüse- und Getreidesorten sowie Obstbäume wuchsen. Vor diesem Anstieg breitete sich ein halbrunder See aus. Das trübe Wasser schimmerte rötlich. Seine Oberfläche war glatt wie ein Spiegel, denn unter dem Atmosphärendach rührte sich kein Wind und Fische lebten nicht in diesem toten Gewässer. An seinem Ufer erhob sich die Arena mit ihren 100 000 Sitzplätzen.
Apoll und Merkur gingen zügig über die staubige Straße, die die Transferhalle mit dem Stadion verband. Mit einem Mal blieb Apoll stehen und reckte den Kopf zum Dach. Außerhalb herrschten Temperaturen von zeitweise unter minus achtzig Grad Celsius. Die Luft dort einzuatmen, wäre schon nach wenigen Zügen tödlich.
»Nein, Apoll.« Merkur rollte mit den Augen. »Du hältst jetzt keinen Vortrag über Gerechtigkeit und das alles. Wir haben keine Zeit, wir müssen zur Arena.«
Apoll rührte sich nicht und hielt den Blick weiter nach oben gerichtet. »Eigentlich hätte die Hülle den Menschen in dieser Wüste die große Freiheit bescheren sollen«, sagte er mehr zu sich selbst als zu seinem Freund.
»Ich weiß. Nur leider kam der Große Krieg dazwischen. Los, jetzt geh weiter.« Merkur stieß seinen Kumpel an. Mit wütender Miene drehte sich Apoll um. »Die Marskolonie ist das Gegenteil von Freiheit. Sie ist ein Gefängnis und wir sind die Sklaven der Gyne.« Apoll spuckte verächtlich aus und stapfte weiter in Richtung der Arena. Ihn wunderte es nicht, dass die Kolonie – dieses gigantische technische Meisterwerk – unter den Männern nur abschätzig das Loch genannt wurde.
Das Stadion wies zehn Zugangstore auf, von denen jedes mit einer römischen Zahl von I bis X gekennzeichnet war. Apoll und Merkur bogen in den Aufgang I ab, hinter dem sich ihre lebenslang zugewiesenen Sitzplätze befanden und ein aggressives Gedränge herrschte. Die Männer stießen sich zur Seite, nicht selten brach Streit aus. Endlich erreichte Apoll seinen Platz, auf dessen orangefarbener Sitzschale aus Hartplastik sein Code eingeprägt war: I-A-187. Die Buchstaben I und A standen für Schlafsaal A im Wohnquartier I. Die Zahl 187 wies ihn als den 187. Jungen aus, der im Alter von vierzehn Jahren in diese Kammer eingezogen war.
Apoll erinnerte sich an den Tag, an dem er auf dem Mars eingetroffen war, der 30. Oktober 2084. Das lag mehr als zehn Erdenjahre zurück. Längst war die Marskolonie vollständig belegt. Die Gyne hatten die Jungen mit den riesigen Pendelfähren, die zwischen der Orbitalstation 1 über Gaia und der Orbitalstation 2 über dem Mars verkehrten, zum Roten Planeten gebracht. Sie waren nun zwischen 14 und 25 Jahren alt. Niemand in der Kolonie war älter oder jünger – und niemand weiblich. Da sie von den Gyne nur mit Code-Nummern bezeichnet wurden, gehörte es zur Ankunft auf dem Planeten, sich einen Namen zu geben. Die Bezeichnungen antiker Götter waren zum Zeitpunkt von Apolls und Merkurs Eintreffen beliebt. Sie passten zum Mars, der nach dem römischen Kriegsgott benannt war. Anfangs hatten die Jungen den Lügen der Gyne geglaubt, in der fernen Kolonie erwarte sie ein großes Abenteuer …
An der den Tribünen gegenüberliegenden Seite der Arena stand ein riesiger Bildschirm, auf dem der Countdown lief. Im Hintergrund lag der See. Sie hatten es rechtzeitig geschafft – wie immer. Apoll drehte sich zu seinem Freund um, der seinen Platz mit der Einprägung I-B-235 eingenommen hatte. Ein Sensor unter dem Sitz erfasste, ob die richtige Person auf ihm saß. Alle in der Marskolonie trugen ein Implantat. Noch fanden sich einzelne freie Plätze in dem Halbrund, zu denen Männer im Laufschritt eilten. Hoffentlich würde es heute jeder, der sich nicht in einer Krankenkapsel befand, in die Arena schaffen, bevor der Countdown ablief.
Neben dem Bildschirm wuchs die Anzeige in die Höhe, wegen der alle hierher gerufen worden waren: ein Turm mit einer roten LED-Skala, die vom Boden bis zu seiner Spitze lief. Am Boden zeigte sie den Wert 0, an der Spitze den Wert 1 000. Dazwischen waren mit weißen Strichen auf dem schwarzen Metall Schritte von fünfzig Punkten abgetragen. Die Skala leuchtete vom Boden bis zur Spitze rot. Das Malus-Meter hatte den Wert 1 000 erreicht.
Apoll zählte die letzten drei Sekunden mit. Der Countdown sprang auf null. Es war plötzlich still in der Arena, Apoll hörte nur leises Murmeln von den Reihen hinter sich. Er musste sich nicht zu Merkur umdrehen, um zu wissen, was der gerade tat. Er zog sich den Kaugummi aus den Ohren und steckte ihn sich wieder in den Mund. Kaugummis gab es nur auf dem Schwarzmarkt und das zu hohen Preisen.
Plötzlich erhob sich eine mechanische Stimme: »Ein Bewohner der Marskolonie hat sich unerlaubt vom Gelände entfernt. Er ist tot. Es wurde ein Malus von 1 000 Punkten verhängt.«
Apoll schauderte. Ein Bewohner war geflohen und ums Leben gekommen? Stimmte das? Sollte er den Gyne glauben? Unruhe brach aus. Einige Männer standen auf und blickten sich in der Arena um. Welcher Platz war überraschend leer geblieben?
Die Stimme setzte ihre mechanisch klingende Ansage fort. Apoll wusste, was folgte.
»Mit sofortiger Wirkung treten die folgenden fünf Strafen in Kraft:
Erstens: Der Sauerstoffgehalt der Atemluft wird abgesenkt.
Zweitens: Die Nahrungsmittelzuteilung wird um zwanzig Prozent gesenkt.
Drittens: Die Trinkwasserzuteilung wird um zwanzig Prozent gesenkt.
Viertens: Die tägliche Arbeitszeit wird um zwei Stunden erhöht.
Fünftens: Es finden keine Kämpfe in der Arena statt.
Die Dauer der Strafmaßnahme beträgt eine Woche. Wird innerhalb dieser Woche ein neuer Malus verhängt, verlängert sich die Strafdauer um eine Woche.«
Apoll stöhnte und senkte den Kopf auf seine auf den Oberschenkeln abgestützten Unterarme. Zwei Stunden Arbeit täglich mehr, also sechszehn statt vierzehn. Was für ein Horror. Er hörte einige in der Arena husten. Sie stellten sich vermutlich den sinkenden Sauerstoffgehalt in der Atemluft vor. Bei der letzten Strafwoche waren Dutzende Männer ohnmächtig geworden und lagen wenig später leblos in den Gängen. Niemand hatte ihnen geholfen. Die Wächter hatten sie fortgeschafft. Die Gyne würden neue Jungen schicken, um die freigewordenen Arbeitercodes zu besetzen. Sie berechneten den Wert eines Menschen auf dem Mars lediglich anhand der Transportkosten und den Kosten für Aufzucht und Erziehung.
Jeder in der Kolonie kannte das Malus-System in- und auswendig. Die höchste Strafe von 1 000 Punkten wurde fällig, wenn ein Mann zu fliehen versuchte. In diesem Fall kam es immer zu einer Sanktion, da die Skala sofort ihr Limit erreichte. Es wunderte Apoll nicht, dass sich Männer gegenseitig umbrachten, falls jemand eine Flucht plante, denn für einen solchen Mord sahen die Gyne nur 250 Punkte vor. Die höchsten Strafen galten – nach der Flucht – für jede Form der Auflehnung. Wenn jemand in der Kolonie zum Widerstand aufrief, sich Anordnungen widersetzte, andere Männer aufstachelte oder die Gyne beleidigte, verhängten diese 500 Malus-Punkte. Der zweite Schwerpunkt der Strafen lag bei der Einhaltung der Arbeits- und Produktionspläne: 300 Punkte für eine Abweichung von der Tagesproduktion, 200 Punkte für das unentschuldigte Fehlen bei einer Schicht oder fünfzig Punkte für jedes Zuspätkommen. Der Strafenkatalog listete weitere Tatbestände wie Vergewaltigung, Körperverletzung oder Diebstahl auf, die jedoch weniger als hundert Malus-Punkte zur Folge hatten.
Nach dem Ende der Strafwoche passierte immer dasselbe. Das Malus-Meter fiel auf den Wert null, sofern sich während der sieben Tage keine neue Strafe ergeben hatte. Viele betrachteten den Moment des Resets als Freibrief. Diebstähle, Schlägereien oder Vergewaltigungen ereigneten sich am laufenden Band. Etliche dieser Taten entdeckte das Überwachungssystem der Marskolonie. Die Gyne belangten niemals einen Einzelnen. Es existierte nur die kollektive Strafe. Die Malus-Anzeige stieg daher zügig. Apoll widerte das Verhalten dieser Mitinsassen an.
Es dauerte nur wenige Tage, bis die Skala wieder bei rund 900 stand. Dann verlangsamte sich der Punkteanstieg und stagnierte. Für eine gewisse Zeit herrschte Ruhe. Bis die Anzeige auf den Wert von 1 000 sprang und der schrille Sirenenton durch die Kolonie schallte. Das Verhalten der Männer in der Marskolonie orientierte sich allein am Malus-System.
Aber die Gyne waren nach der Verhängung der Strafwoche noch nicht mit den Männern fertig. Jeder wusste, was als Nächstes kam. Apoll schloss die Augen, ballte die Fäuste, spannte seinen ganzen Körper an. In der Arena herrschte Totenstille.
»Folgende Code-Nummer wird wegen der Erreichung der Malus-Grenze exekutiert: III-H-631.«
Ein Schrei hallte durch die Arena. Zwei Sitzblöcke entfernt von Apoll sprang ein Mann von seiner Sitzschale auf und reckte die Fäuste in den Himmel. Mitten in seiner Bewegung verharrte er mit aufgerissenem Mund. Der Schrei verstummte. Wie in Zeitlupe erschlaffte seine Gestalt, fiel in sich zusammen und stürzte in die Ränge unter sich, in denen die Männer den herabfallenden Körper panisch abwehrten. Lautes Gemurmel erhob sich in der Arena.
Apoll atmete aus. Ihn oder Merkur hatte es diesmal nicht erwischt. Die Gyne wählten das Opfer, soweit er es beurteilen konnte, zufällig aus. Ihm war nie zu Ohren gekommen, dass es sich bei dem Getöteten um einen auffälligen Straftäter handelte. Die Gyne wollten puren Schrecken verbreiten.
Abermals erklang die mechanische Stimme in der Arena.
»Erhebt euch. Nennt eure Pflichten.«
Die Männer erhoben sich. Ein gewaltiger Chor schallte durch das Halbrund.
»Wir gehorchen und werden atmen.
Wir arbeiten und werden essen.
Wir helfen einander und werden trinken.
Wir danken und werden leben.«
Die Männer waren der Aufforderung der Stimme nachgekommen. Die Gyne würden zufrieden sein. Die vier Pflichten kannte jeder auf dem Mars. Sie lernten sie bereits als Kinder in Gaia auswendig. Apoll hatte die Pflichten nicht aufgesagt und geschwiegen, was ihm zweideutige Blicke seiner Sitznachbarn einbrachte. Einerseits wollte hier niemand einen Aufwiegler in seiner Nähe haben, denn die meisten versuchten nur, so gut wie möglich in der Kolonie durchzukommen. Andererseits hassten die Männer die Gyne und daher glaubte Apoll, ein wenig Bewunderung in den Blicken zu erkennen. Ihm widerstrebte die Kollektivbestrafung mit jedem Mal mehr. Er hatte schon zu viele Strafwochen in den vergangenen zehn Jahren über sich ergehen lassen müssen.
Als Apoll zwischen den rund 100 000 Männern in der Arena stand und auf den großen Bildschirm gegenüber blickte, der langsam erlosch, traf er eine Entscheidung. Er drehte sich zu Merkur um und sah in dessen Gesicht die gleiche Entschlossenheit. Die Herrschaft der Gyne über den Mars musste ein Ende finden. Je schneller, desto besser.